«Wenn man die Vergangenheit aufarbeitet, kann man die Zukunft aufbauen.»

Von Julia Sidler & Léonie Schwarz / Kantonsschule Hohe Promenade / November 2025

 

Der Unternehmer und Stiftungsgründer Guido Fluri setzt sich seit Jahren für die Aufarbeitung verdrängter Schweizer Geschichte und für eine neue Erinnerungskultur ein.

Guido Fluri in seinem Büro in Cham. Er setzt sich seit einigen Jahren für die Verganenheitsaufarbeitung in der Schweiz ein sowie auch für eine neue Erinnerungskultur. (Bild: swissinfo.ch)

Guido Fluri hat erlebt, was es heisst, ausgestossen und gebrochen zu werden – und er hat daraus eine Bewegung geschaffen. Der Unternehmer und Stiftungsgründer kämpft seit Jahren für die Aufarbeitung verdrängter Schweizer Geschichte und für eine neue Erinnerungskultur. Mit seiner Wiedergutmachungsinitiative gab er den ehemaligen Verdingkindern eine Stimme – und erinnert alle daran, dass nur, wer die Vergangenheit versteht, die Zukunft gestalten kann.

Mit Gelassenheit, aber auch spürbarer Stärke berichtete Guido Fluri von den traumatischen Erlebnissen seiner Kindheit. Er wurde als Kind fremdplatziert, wie rund 100’000 andere Kinder in der Schweiz auch. Er kam als «uneheliches Kind», was damals als «Schande» galt, zur Welt und wurde dadurch und durch die Erkrankung seiner Mutter an Schizophrenie zum Verdingkind. Im Heim wurden die Verdingkinder schrecklich behandelt – man beleidigte sie und bildete ihnen ein, dass aus ihnen nie etwas werden könnte. Einige von ihnen sind bis heute psychisch angeschlagen – oder haben sogar Suizid begangen.   

Vom Leid zur Bewegung 

Einige Jahre nach seiner Platzierung im Heim wurde Fluri von seiner Grossmutter in Matzendorf im Kanton Solothurn aufgenommen. Dort konnte er die obligatorische Schulzeit beenden und zur Ruhe kommen. Nach einer gescheiterten Spenglerlehre schloss er die Lehre zum Tankwart ab.

Schon früh zeigte sich sein unternehmerischer Geist:  Alle seine Trinkgelder legte er sorgfältig zur Seite. So  konnte er seine Ersparnisse mithilfe der Aufnahme eines Bankkredits in ein Stück Land investieren, welches er bebaute und anschliessend erfolgreich verkaufte. Dieses Startkapital wurde zum Grundstein seines späteren unternehmerischen Weges.  

Fluri war einer der ersten in der Schweiz, der öffentlich über die untergegangene Vergangenheit der Schweiz geredet hat und von der Schweiz eine Wiedergutmachung verlangte. Mit der Wiedergutmachungsinitiative 2014 forderte er die Regierung auf, Verantwortung zu übernehmen und  die ehemaligen Verdingkinder zu entschädigen. Seither engagiert er sich für die Aufarbeitung diverser Themen und wurde zu einer zentralen Figur der modernen Schweizer Erinnerungskultur.

Von der Wiedergutmachungsinitiative abgesehen, hat er zum Beispiel ein Erzählbistro eröffnet und veranstaltet ein jährliches Sommerfest, auf dem Menschen offen über belastende Ereignisse sprechen können.

«Wenn man die Vergangenheit aufarbeitet, kann man die Zukunft aufbauen» – Guido Fluri sagt diesen Satz ruhig - fast beiläufig, obwohl er seit vielen Jahren leidenschaftlich für diese Mission kämpft.  

Wie Fluri die Vergangenheitsaufarbeitung in der Schule verankern will

Fluri hat nicht nur jahrzehntelanges verdrängtes Unrecht in der Schweiz sichtbar und wiedergutgemacht, sondern arbeitet auch immer noch an der offiziellen Integration der Aufarbeitung der Vergangenheit im Lehrplan der Zürcher Oberstufen und im gesellschaftlichen Bewusstsein. Es überrascht ihn deshalb nicht, dass im Schulunterricht Verdingkinder noch nie ein Thema waren. Er fordert schon seit Längerem, dass die Aufarbeitung der Vergangenheit auch die Jugend erreichen soll und in den Lehrplan der Schweizer Oberstufen aufgenommen wird. „Wir müssen wieder mehr auf die Menschen zugehen“, sagt er. Es ist ein leiser Appell in einer lauten Zeit – und vielleicht genau das, was die Erinnerungskultur der Zukunft braucht.

 

Guido Fluri als Kleinkind im Kinderheim Mümliswil im Kanton Solothurn.

2011 hat Guido Fluri das Gebäude gekauft und anschliessend 2013 als Gedenkstätte eröffnet.

Die Aufarbeitung als Lebensphilosophie 

«Es ist schön, wenn man viel Geld hat – das ist toll, oder? Aber entscheidend sind die Spuren, die man hinterlässt, wenn man einmal weggeht.“  

Fluri betonte mehrmals, dass er nach der Frage: „Was ist mir wichtig?“ handelt. Dies zeigt sich auch in den Gebieten, die seine Stiftung beleuchtet. Sie haben alle mit seiner Biographie zu tun und leisten ihren Dienst in der Gesellschaft nach den Leitwerten von Guido Fluri. Er hat aus seinem Schmerz eine Bewegung gemacht – und seine Kraft dafür genutzt, die Gesellschaft zum Hinsehen zu bewegen. Seine Vergangenheit hat in ihm den Ehrgeiz geweckt, aus erlittenem Unrecht Verantwortung zu übernehmen und sich für die Aufarbeitung und für die Betroffenen einzusetzen.

 Jeden Tag, erzählt er, spreche er mit Menschen, die an den Folgen ihrer Vergangenheit leiden: ehemalige Heimkinder, Zwangsadoptierte, Menschen mit seelischen Wunden. „Die Vergangenheit lässt sich nicht wegtherapieren“, sagte er, „aber ich kann den Menschen helfen ein Stück weit loszulassen und ihre Vergangenheit akzeptieren zu lernen.“  

„Da muss jemand da sein, der sie versteht und begleiten kann“, sagt er. „Und das gibt mir auch Kraft, diese Arbeit zu machen.“  

Guido Fluri ist längst nicht mehr nur ein Erinnerungspolitiker oder Wiedergutmacher. Er spricht von  Menschen, nicht von Systemen. Von Gesprächen, nicht von Konzepten. Seine Arbeit ist eine gesellschaftliche Philosophie. Er wendet sich den Menschen zu, sucht den Sinn der Aufarbeitung im Jetzt anstatt in der Vergangenheit und formt eine Gemeinschaft.  

  

Eine Erinnerungskultur für die Zukunft  

Heute setzt sich Guido Fluri stark für die Aufarbeitung von Unrecht ein – in der Schweiz und weit darüber hinaus. Er hat noch Grosses vor und will, dass die Erinnerung nicht in der Vergangenheit stecken bleibt, sondern in der Zukunft wirkt. Er plant eine weitere Volksinitiative und möchte die Aufarbeitung in anderen Ländern ankurbeln, wie zum Beispiel die circa 2150 zwangsversetzten Kinder von der ehemals kolonialisierten Insel La Réunion aus Frankreich entschädigen. Die Jugend bittet er, sich zu fragen:«Was ist damals schiefgelaufen?», und sich zu überlegen, was sie tun kann, damit sich die Geschichte nicht wiederholt. Für die Zukunft leitet er weitere Projekte in die Wege, um die Jugend zu unterstützen und ihr zu helfen.

Guido Fluris Leben zeigt, dass aus Schmerz Kraft hervorgehen kann – und dass Aufarbeitung nicht nur ein Blick zurück, sondern ein Weg in die Zukunft ist. 

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