Hoffnung auf ein Leben ohne Angst – eine mutige Flucht vor Krieg, Terror und Ungewissheit

Von Saskia Aisslinger & Andrina Deragisch / Kantonsschule Hohe Promenade / November 2025

 

Die Afghanin Shabnam Simia führte in Kabul ein Leben als Staatsanwältin. Nach der Machtübernahme der Taliban 2021 war sie gezwungen, all das aufzugeben. In der Schweiz musste sie wieder bei Null anfangen und ein neues Leben aufbauen.

Auf dem Bild zu sehen ist die 39 jährige Shabnam Simia. Heute versucht sie, in der Schweiz ein neues Leben aufzubauen – weit weg von der Unsicherheit ihrer Vergangenheit. (Bild: Heks)

Angst und Stress, zwei uns allen bekannte Gemütszustände. Doch was, wenn das Leben einzig und allein von Angst geprägt ist? Wenn man jeden Tag morgens damit aufwacht und abends damit zu Bett geht? Wenn das Einzige, was einem Motivation gibt, die Hoffnung ist? Die Hoffnung auf ein Leben ohne Angst.

So sieht der Alltag vieler Menschen in Kriegsgebieten aus. So war der Alltag früher auch für Shabhnam Simia in Kabul, der Hauptstadt Afghanistans. Heute lebt sie alleine, seit einem Jahr geschieden von ihrem Ex-Mann, in Winterthur im Kanton Zürich, wo wir sie zu einem Gespräch über ihre Geschichte getroffen haben. Doch ihr Weg dorthin war gefährlich, lang und voller Emotionen.

Shabnam Simia ist heute 39 Jahre alt und lebt seit vier Jahren in der Schweiz. 2021 war sie mit ihrem damaligen Ehemann von Afghanistan in die Schweiz geflüchtet. Seit 2018 verschärfte sich ihrer beider berufliche Situation in Afghanistan: Shabnam Simia als Anwältin und ihr Ex-Ehemann als Journalist. Beide gingen aus berufsethischen Gründen gegen die Taliban vor und galten daher als gefährdet.

Für politisch verfolgte Personen gibt es die Möglichkeit, ein humanitäres Visum bei der Schweizer Botschaft in Islamabad zu beantragen. Um bessere Chancen auf ein solches Visum zu haben, bewarben sich die Beiden bei ICORN (International Cities of Refuge Network). An dieser Stelle trat Sabine Haupt, Literaturwissenschaftlerin, Autorin und wichtige Akteurin im Bereich Schutz gefährdeter afghanischer Intellektueller, über PEN-Schweiz (Poets, Essayists, Novelists) in Simias Leben. Sabine Haupt war von Anfang an Teil von Simias Weg und spielt noch heute eine wichtige Rolle in deren Leben.

 

Kabul fällt – alles bricht zusammen

Karte von Afghanistan und der Umgebung.

Drei Jahre später, im Jahr 2021, nach Corona, machten sich Shabnam Simia und ihr damaliger Ehermann auf den Weg nach Pakistan, um dort bei der Schweizer Botschaft in Islamabad, welche auch für Afghanistan zuständig ist, ihr Visum zu beantragen. Doch dieser Antrag wurde abgelehnt, weshalb sie sich wieder auf den Rückweg machen mussten. Kaum zurück in Afghanistan, erhielten sie die Nachricht von Sabine Haupt, ihr Visumsantrag sei gleichwohl angenommen worden. 

Die politisch prekäre Situation im Land versetzte Shabnam Simia und ihren Landsleuten in Angst. Die Taliban hatten schon fast zwei Drittel aller Provinzen Afghanistans eingenommen.

Kurz darauf, am 15. August 2021, fiel die Hauptstadt Kabul, und das Land war vollkommen von den Taliban besetzt. Für Shabnam Simia und ihren damaligen Ehemann bedeutete dies das endgültige Ende jeder Sicherheit. Die Bankkonten des ehemaligen Ehepaars wurden gesperrt und sie verliessen ihr Zuhause nur für das absolut Notwendigste. Allein ein Klopfen an der Haustür löste Panik bei ihnen aus - jeder kurze Moment der Stille konnte sich mit einem Schlag in Angst verwandeln. Die ständige Unsicherheit, die Bedrohung und das Gefühl, jeder Schritt könnte der letzte in Freiheit sein, begleiteten sie Tag und Nacht.

Zehn Tage später entschieden Shabnam Simia und ihr Ex-Mann, sich auf die illegale Flucht zu begeben. Jeder wusste, wie gefährlich dieser Weg war, und doch blieb keine Zeit für Zweifel oder Zögern – die Alternative wäre ein Leben unter ständiger Verfolgung gewesen. Ihr Kollege, der sie bis an die Grenze zu Pakistan fahren sollte, entsprach laut Simia dem talibanischen Stereotyp: langer Vollbart, traditionelles Gewand, ein strenger Blick. Diese Ähnlichkeit war ihr Schutzschild. Sie selbst verhüllte sich von oben bis unten, sodass nur ihre Augen sichtbar waren. Die Fahrt dauerte 23 Stunden - ohne Pause, ohne Schlaf, ohne Gewissheit, lebend anzukommen. Trotzdem verlief die Fahrt wider aller Erwartungen reibungslos. Für Shabnam Simia war es ein Wunder, ein erster Funke Hoffnung inmitten grösster Angst.

An der Grenze angekommen, musste eine hohe, dicke Steinmauer überwunden werden. Dahinter lag Pakistan – und vielleicht eine Chance auf Sicherheit. Doch damit sollte der Weg noch lange kein Ende haben. In diesem fremden Land mussten sie vor der Landespolizei achtsam sein, denn wenn sie entdeckt worden wären, wären sie den Taliban ausgeliefert worden, denn die pakistanische Regierung hatte gute Beziehungen zu ihnen. Pakistan war zwar Zufluchtsort, aber gleichzeitig voller Gefahr.

30 Tage lang verbrachten sie in einem Hotel in Islamabad und warteten auf ihr Visum und die darauffolgende Ausreise. Dreissig Tage Stillstand, dreissig Tage Angst, dreissig Tage Hoffnung. Das Leben bestand aus Warten, aus dem Versuch, ruhig zu bleiben, aus Gedanken an das Zuhause, das sie zurücklassen mussten, und an die Menschen, die dort weiterhin in Gefahr waren. Als sie endlich mit dem humanitären Visum am Flughafen standen, war es kein Moment des Jubels, sondern ein vorsichtiges Aufatmen. Erst nachdem die Polizei sie ohne Probleme durchgelassen hatte, konnten sie realisieren: Der Weg zur Sicherheit war offen. Ein erster Schritt in ein neues Leben – fern von Krieg, Angst und Verfolgung.

 

Ankommen mit nichts – und doch mit Hoffnung

Atiq Arvand und Shabnam Simia als sie am Genver Flughafen von Sabinen Haupt abgeholt wurden.

Mit 20 Franken landeten sie am Genfer Flughafen: eine weitere Hürde, die es zu meistern galt. Dort wurden sie aber herzlich von Sabine Haupt empfangen und durften die ersten paar Tage in der Schweiz in deren Wohnung verbringen. Die nächsten zwei Monate verbrachten sie im Asylzentrum in Chiasso. Gequält von Sorgen um ihre Familie und Freunde, die sich noch immer im Krisengebiet Afghanistans befanden, litt Shabnam Simia wochenlang unter Kopfschmerzen. Die Angst um ihre Liebsten verfolgte sie auch im Schlaf. Erst als diese durch Shabnam Simias Hilfe ebenfalls in Sicherheit in Deutschland waren, konnte sie aufatmen und sich auf ihr neues Leben in der Schweiz fokussieren, beginnend mit ihrem Umzug nach Zürich.

Eine komplett neue Sprache, ein Umfeld voller Fremden, eine Kultur, die sich grundsätzlich von ihrer eigenen unterscheidet: Da waren sie: die nächsten Herausforderungen, die bald mehr waren als nur Herausforderungen, nämlich Überforderungen.

Diese Umstände waren jedoch nichts Neues für Shabnam Simia, denn in ihrer Kindheit war sie schon einmal geflüchtet: von Afghanistan in den Iran.

 

Eine Kindheit voller Flucht

Damals hatte Shabnam Simia diese Veränderung mit der ganzen Familie durchgemacht; sie war noch nicht einmal ein Jahr alt gewesen, als sie ihre erste Flucht auf sich genommen hatte. Ihre gesamte Kindheit verbrachten sie und ihre drei Geschwister zusammen mit den Eltern im Iran. Die Jahre vergingen und die Kinder wuchsen zu Jugendlichen heran.

Die sechzehnjährige Shabnam Simia sah für sich selbst keine Zukunft im Iran, wo sie als Afghanin keine Chancen hatte. Zusammen mit ihrem siebenjährigen Bruder machte sie sich zurück auf den Weg in ihre Heimat. Dort wohnte sie fortan bei ihrem Cousin. Selbst noch ein Kind und die Verantwortung für ihren kleinen Bruder tragend: die 24-stündige Fahrt mit dem Bus war emotional stressig gewesen, doch als die Grenze überquert war, war eine grosse Last von ihr abgefallen. Der Rest ihrer Familie folgte einige Monate später, denn die Mutter konnte nicht ohne ihre beiden Kinder leben. Die Angst und die Sorgen überwältigten die Mutter.

Alle wieder vereint, ging das Leben „normal“ weiter. Nachdem Simia die Schule abgeschlossen hatte, studierte sie Rechts- und Politikwissenschaften, machte ihren Master in Strafrecht und Kriminologie und entschied sich für den Beruf der Staatsanwältin. Eine Entscheidung, mit der sie ihr Leben in Gefahr brachte und letztlich zu ihrer zweiten Flucht führte.

Angekommen – und doch auf dem Weg

Heute lebt Shabnam Simia alleine in ihrer Wohnung in Winterthur. Mit Sabine Haupt hat sie bis heute Kontakt. Shabnam Simia arbeitet freiwillig bei Hilfsorganisationen mit und lernt fleissig Deutsch, damit sie in naher Zukunft als Sozialarbeiterin wirken kann. So hat sie die Möglichkeit, anderen Menschen zu helfen, die in ähnlichen Situationen sind wie sie damals.

Keine Flucht ist einfach, sie bringt viele Herausforderungen und noch mehr Ängste mit sich, aber, wie Shabnam Simia sagt: „Man kann seine Angst überwinden, wird stärker und lernt daraus.“

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«Wenn man die Vergangenheit aufarbeitet, kann man die Zukunft aufbauen.»