Krieg, das Ende der Menschlichkeit

Von Romy Bachmann & Sacha Harder / Kantonsschule Hohe Promenade / November 2025

 

Ein junger Ukrainer wünscht sich, dass man Krieg mit Reden und nicht mit Gewalt löst. Auch Menschlichkeit ist in solchen Situationen notwendig, laut eines Syriers, welcher sein Leben zurücklassen musste, um sein Leben zu retten.

Das Bild zeigt eine stark zerstörte ukrainische Stadt: Häuser sind ausgebrannt, Dächer sind eingestürzt und Rauch steigt aus den Trümmern auf. Die Szene steht stellvertretend für die massiven Zerstörungen, welche seit dem russischen Angriff entstanden sind.

Was für viele eine Schlagzeile bleibt – “Ukraine hebt Abreiseverbot für junge Männer auf “, “das Trauma der Vertreibung, eingebrannt seit Generationen “ – bedeutet für die Betroffenen den Verlust von Sicherheit, Geliebten und Identität, wie zum Beispiel den jungen Ukrainer Artem Ostrozky und Ismail Mahmud aus Syrien.

Hinter diesen oberflächlichen Berichten stecken Geschichten von Flüchtlingen, welche jeden Tag ängstlich mit einem Überlebenskampf konfrontiert werden. Flucht und Vertreibung sind kein fernes Problem, sondern eine globale ernstzunehmende Krise, welche die gesamte Menschheit seit Jahrzehnten begleitet – und deren Ausmass heute erschütternder ist als je zuvor.

Der ukrainische Krieg aus den Augen von Artem Ostrozky

Der langjährige Konflikt zwischen der Ukraine und Russland begann mit der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine im Jahr 1991. Die Annäherung an die NATO führte zu grossen Spannungen mit Moskau. 2014 eskalierte der Konflikt: Nach dem Sturz des prorussischen Präsidenten Janukowytsch übernahm eine proeuropäische Regierung die Führung, woraufhin Russland die Krim annektierte – ein Bruch des Völkerrechts.

Für den Grossteil der Menschheit, unteranderem Artem Ostrozky, begann der Krieg am 24. Februar 2022, als Russland den Krieg dramatisch ausweitete: Wladimir Putin legte die ersten Bomben.

Zu diesem Zeitpunkt war Artem Ostrozky gerade einmal dreizehn Jahre alt. Er lebte mit seinen Eltern und seinen zwei älteren Brüdern in einem modernen Wohnblock, am Rande von Kiew. Es war Februar und der Winter eher mild. Niemand dachte, dass der Krieg wirklich bis hierherkommen würde. Doch dann kam der Morgen, an dem sich alles änderte.

“I still remember the first explosion. It was early morning, and I thought it was thunder, but then my mom started shouting. We ran to the basement. I could hear sirens, and my heart was beating so fast I thought it would break. That was the first time I saw my dad looked scared. “

An jenem Tag verlor Artem Ostrozky sein normales Leben. Der Donner, den er für ein Gewitter hielt, war der Einschlag einer russischen Rakete, nicht weit von ihm entfernt. Wenige Minuten später, ertönten die schrillen Sirenen, welche die Strassen mit Lärm erfüllten. In der Ferne sah er Rauch über den Häusern. Sein Vater, ein ruhiger Mann, welcher jedes Problem mit Geduld löste und immer einen kühlen Kopf bewahrte, war blass vor Angst.

Die Familie floh in den Keller, wo sie die nächsten Tage verbringen würden. Es war ein kalter und dunkler Ort. Sie hatten kaum Essen und die Wasserration war knapp.

Nach einigen Tagen wurde die Lage in Kiew schlimmer. Die Stadt stand unter Beschuss, und die Armee begann Junge Männer einzuziehen. Darunter auch Artem Ostrozkys Brüder. In Eile verabschiedeten sie sich- das war das letzte Mal, als sie sich gesehen haben.

Artem Ostrozky wurde kurz darauf in ein Kadettenprogramm geschickt. Dies ist ein Lager, welches Jugendliche auf das Überleben im Krieg vorbereitet. Er blieb einige Wochen dort, das Kind in ihm verschwand langsam. Doch manchmal in der Nacht, spielten die Leiter Gitarre. So fand er seine Passion für die Musik. Er begann einfache Akkorde zu lernen, bald spielte er selbst Lieder. Die Musik war sein Rückzugsort in einer Welt voller Unsicherheit.

“At night, one of the men played guitar and that‘s how I learned it. Music was the only thing that made us forget where we were.“

Das Bild zeigt einen Jungen in Militärkleidung, der mit entschlossenem Blick ein Gewehr hält. Er steht mitten im Wald und wirkt viel zu jung für den Krieg.

Den Eltern allerdings war eines klar: Sie konnten nicht noch einen Sohn an den Krieg verlieren. Artem Ostrozkys Grossvater, ein ehemaliger Diplomat, hatte noch Kontakte im Ausland- unteranderem in England. Mit Hilfe von Kollegen reüssierte es ihm, Artem auf ein Internat in England zu schicken, welches ein Programm für ukrainische Flüchtlinge anbot. Hin und hergerissen begab der Junge sich auf seine Flucht. Ihm stand ein langer Weg bevor, voller Ungewissheit. Von Kiew fuhr er mit einem Bus stundenlang in Richtung der polnischen Grenze. Dort nahm er in Warschau ein Flug, welcher ihn sicher nach England brachte.

In England angekommen, musste er sich zuerst zurechtfinden. Es war ein fremdes Land, weit weg von seiner Heimat und seiner Familie. Die ungewohnte Stille, welche in England herrschte, erschreckte ihn am Anfang. Für ihn war es normal, ständig auf Geräusche zu achten oder auf Sirenen zu warten.

Im Internat fand er schnell Freunde- viele von ihnen stammten auch aus der Ukraine. Auch wenn sein neues Leben perfekt schien, vermisste er täglich seine Familie und sein Zuhause.

„I miss walking with m brothers, the smell of our kitchen, when my mom‘s cooking. I miss normal things- stupid things, like hearing cars in the street instead of bombs. England is nice, but still not the same.“

Mit seinen Eltern hatte er nur noch wenig Kontakt, da die Verbindung oft abbrach. Er konnte in den Ferien, zurück nach Kiew fliegen, falls es sicher genug war. Die Stadt war jedoch komplett zerstört. Ihn erschütterten diese Anblicke- was einst sein sicherer Hafen war, war nun ein Haufen von Ruinen. Dann fliegt er zurück nach England, ein sicherer Ort, der sich jedoch, wie ein Käfig anfühlt. Artem Ostrozky weiss sein Glück zu schätzen, aber Glück fühlt sich falsch an, wenn diejenigen, die man liebt in Lebensgefahr sind.

Für ihn ist es unbegreiflich, wie Menschen es zulassen, dass ein Krieg unschuldigen Bürgern alles wegnimmt.

„My grandfather always say: Diplomacy fails when people stop listening. He‘s right. I just hope one day my brothers can come back alive. I don‘t even care winning anymore. I just want it to end.“

Für Artem Ostrozky zählt nur noch eines: Er will keinen Sieg. Er will nur Frieden.

Heute ist er fast 16 Jahre alt. Er spricht fliessend Englisch, spielt immer noch Gitarre und hat mit Boxen angefangen. Von aussen wirkt er wie ein glücklicher Mensch, doch in sich trägt er immer noch das Leid seiner ganzen Familie. Seine Geschichte ist die eines Jungen, welcher überleben musste, bevor er wirklich leben durfte.

Das Schicksal von Ismail Mahmud

Das Bild zeigt eine schwer zerstörte Strasse in einer syrischen Stadt. Häuser sind eingestürzt, Autos liegen unter Trümmern, und aus einem Gebäude lodern Flammen.

„Deshalb appelliere ich an alle: Hören Sie zu, versuchen Sie zu verstehen, zeigen Sie Mitgefühl. Ein bisschen Menschlichkeit kann das Leben vieler verändern.“

Mit diesen Worten beendet Ismail Mahmud seine Geschichte – eine Geschichte, die von Verlust, Angst und Überleben erzählt, aber auch von Mut und Menschlichkeit.

Mehr als ein Jahrzehnt nach Beginn des Aufstands in Syrien, liegt das Land in Trümmern. Was 2011 als friedliche Protestbewegungen begann, entwickelte sich schnell zu einem brutalen Konflikt. Ein Konflikt, der bis heute kein Ende gefunden hat. Über 500‘000 Menschen verloren ihr Leben, Millionen flohen ins Ausland. Städte wurden zerstört, Familien wurden auseinandergerissen. Syrien ist ein Land zwischen Trümmern- und der Frieden bleibt fern.

Ismail Mahmud stammt aus dem kurdischen Gebiet Syriens. Er lebte dort mit seiner Familie, studierte, war verlobt und träumte von einem friedlichen Leben.

„Niemals hätte ich gedacht, dass ich eines Tages gezwungen werde, mein Land zu verlassen. „

Doch der Krieg rückte näher und stand bald vor der Haustür. Sein Onkel, der die Gefahr erkannte, organisierte seine Flucht.

„Zögern ist gefährlich, du musst dich jetzt entscheiden- entweder kämpfst du und tötest Unschuldige, oder du gehst.“

Ismail Mahmud wusste, dass er nie eine Waffe auf sein eigenes Volk richten könnte. Und so blieb ihm nur noch die Flucht.

Er verliess seine Heimat mit einer kleinen Gruppe von fünf Personen. Mit einem Auto machten sie sich auf den Weg in die Türkei. Von dort begaben sie sich auf eine gefährliche Überquerung des Mittelmeers nach Griechenland. Sie gingen weiter mit Bus, Zug und zu Fuss durch mehrere Länder. Oft wussten sie nicht, in welchem Land sie sich befanden, oder was sie am nächsten Tag erwartete.

Schliesslich erreichte er Österreich. Dort rief er seine Familie an. Sein Onkel riet ihm in ein sicheres Land zu reisen. Weit weg vom Krieg, um nicht entdeckt zu werden. So kam er auf die Schweiz.  Mir einem Direktzug von Österreich, begab Ismail Mahmud sich endlich in Sicherheit. In der Schweiz begann er ein neues Leben- ruhig und sicher, aber voller Zweifel. Er vermisste seine Familie und seine Verlobte. Die Erinnerung an sie gab ihm jedoch Hoffnung.

„Die Erinnerung an meine Familie, Freunde und Verlobte gab mir Hoffnung in dieser Zeit. Hoffnung, dass ich mein Studium abschliessen kann. Hoffnung, dass ich eine Arbeit finde. Hoffnung, dass ich eines Tages wieder mit meiner Familie zusammen sein kann.“

Trotz seinem Bemühen positiv zu bleiben, prägte ihn die ständige Angst, sie nie wieder zu sehen. Doch er hatte Glück und seine Verlobte konnte später nachkommen. Heute sind sie verheiratet.

„Viele meiner Freunde und Verwandten wurden getötet, andere flohen in alle Welt. In dieser Situation gab es keinen anderen Weg, um zu überleben. Ich würde meine Entscheidung wieder treffen.“

Ismail Mahmud sagt das ohne Stolz, aber mit tiefer Klarheit und Entschlossenheit. Für ihn war die Flucht keine freie Entscheidung, sondern eine Notwendigkeit, um zu überleben.

Heute lebt Ismail Mahmud immer noch in der Schweiz und setzt sich für Geflüchtete ein, mit einem klaren Ziel Verständnis und Aufmerksamkeit für dieses Thema zu bezwecken. Er behauptet, dass Geflüchtete oft auf eine Zahl oder ein politisches Thema reduziert werden.

„Niemand verlässt seine Heimat ohne Grund- die Ursachen sind immer schmerzhaft: Krieg, Verfolgung, Todesangst. “

Flucht ist kein theoretisches Konzept, kein Nachrichtenbeitrag, den man kurz überfliegt. Hinter jedem Begriff wie „Flüchtling“ steht ein Mensch mit einer Geschichte, Träumen und tiefen Bedürfnis nach Sicherheit und Würde. Gezwungen zu sein, die Heimat für immer zu verlassen, ist die harte Realität von Millionen von Menschen. Es geht nicht um politische Debatten; es geht um unsere gemeinsame Menschlichkeit. Darum ist es zu wichtig, Empathie zu zeigen, denn ein bisschen Menschlichkeit kann das Leben vieler verändern. 

 

Nicht wegsehen!

Und genau diese Menschlichkeit braucht es jetzt - in Sudan. Dort, wo die Welt gerade kaum hinschaut, spielt sich ein Albtraum ab, der kaum Worte findet. Städte liegen in Trümmern, Felder sind verbrannt, Krankenhäuser zerstört. Menschen suchen Schutz, Familien werden getrennt, Kinder wachsen in der Angst auf, dass jeder Tag der letzte sein könnte. 

Die Bilder, die Satelliten über Darfur und Kordofan, zeigen verkohlte Dörfer, Spuren von Massengräbern, Blutflecken und Leichen. Auf Google Maps kann man die Schatten der Zerstörung sehen, aber was man nicht sieht, sind die Geschichten dahinter: das Gekreische, die Angst, der Tod. 

Sudan ist ein Land, das gerade in der Dunkelheit versinkt, während die Welt wegschaut und ignoriert. Aber wer hinsieht, wer zuhört, erkennt: Es geht nicht um Zahlen, nicht um Schlagzeilen, sondern um Menschen - Menschen, die alles verloren haben, und doch festhalten an der Hoffnung, dass irgendwo jemand hinsieht, dass jemand hilft.

Das Bild zeigt eine Satellitenaufnahme von el-Fasher. Es stellt die Auswirkung von den Massenmorden dar. Experten weisen darauf hin, dass die grossen „Clusters“, welche auf dem Bild zu sehen sind, mit der Grösse von erwachsenem Körper übereinstimmen. Die Verfärbung des Bodens könnte Menschenblut sein.

Vielleicht beginnt die Veränderung genau dort: im Hinschauen. Im Nicht-Wegsehen. Im Erkennen, dass das Leid in Sudan, aber auch das Leid von Artem Ostrozky und Ismail Mahmud kein fernes Problem ist, sondern ein Teil unserer gemeinsamen Verantwortung. Denn Menschlichkeit endet nicht an Grenzen, sondern beginnt im

 

 


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«Wenn man die Vergangenheit aufarbeitet, kann man die Zukunft aufbauen.»

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Strassennamen als Erinnerungsort – Wo bleiben die Frauen?