Wenn Adrenalin zur Droge wird – Diego jagt den Kick über den Dächern von Zürich

Von K. Rogge & N. Dachauer / Kantonsschule Freudenberg / Oktober 2025

 

Im Schatten der Nacht klettern sie auf Baukräne, erklimmen Türme und balancieren auf fahrenden Zügen. Wo andere Abstand halten, findet Diego seine Leidenschaft. Immer schneller, immer höher, immer illegaler.

Diego geniesst die Aussicht von einem Baukran in der Stadt Zürich.

Unter den Hashtags #NoGearsNoFears und #IllegalFreedom findet man zahlreiche Aufnahmen von sogenannten Urban Explorern, kurz Urbexern, darunter den 17-jährige Diego (Name geändert). Urban Exploring ist ein gefährliches Unterfangen, welches in den meisten Fällen gegen das Gesetz verstösst. Gerade deshalb möchte Diego anonym bleiben. Seine Eltern wissen bis heute nicht, dass Diego in seiner Freizeit auf Zügen und Kränen unterwegs ist. Das soll laut ihm auch so bleiben. Eine Freundin von Diego sagt zu diesem Thema hingegen: «Spötischtens nach de erste Anzeig, wüssed sie’s ja eh.» Doch wieso nimmt er regelmässig für sein Hobby eine Geldstrafe oder sogar den Tod in Kauf?

Angefangen hat Diego das Ganze Anfang 2025 zusammen mit seinen Freunden unter Einfluss von Alkohol. Bekannte aus seinem Umfeld hatten bereits Erfahrung mit Urban Exploring. Zudem hatte er Videos in den sozialen Medien gesehen, die ihn beeindruckt hatten. So entwickelte sich schnell eine Leidenschaft für dieses lebensgefährliche Hobby.

Mittlerweile entstehen seine Touren sowohl geplant als auch spontan. Nur selten besteigt er einen Kran allein. Zusammen mit seinen Freunden zieht er ohne umfangreiche Ausrüstung los. Er sagt: «Nur Chleider, mängisch au ohni T-Shirt, aber immer mit Hose.» Auf den Kränen rauchen sie meistens Joints und Zigaretten und geniessen die Aussicht, die in der Stadt besonders eindrucksvoll ist.

Beim Klettern und Trainsurfen ist sein Kopf leer. Er denkt an nichts. «Oder dänn höchschtens, wie geil dasses isch», sagt er, nachdem er einen Augenblick überlegt hat. Er beschreibt das Gefühl als Adrenalinkick. Dieser entsteht einerseits durch die Angst, sich zu verletzen, andererseits aus der allgegenwärtigen Angst, erwischt zu werden. Beim Urban Exploring kann man nie alle Gefahren ausschliessen. Auch erfahrene Urbexer verletzen sich durch unerwartete Ursachen. Einer von Diegos Freunden ist beispielsweise beim Trainsurfen zu nahe an eine Hochspannungsleitung gekommen und hat sich das gesamte Bein verbrannt. Seine Wunden sind mittlerweile verheilt und er hat wieder mit dem Trainsurfen begonnen.

Konsequenzen gemäss Gesetzbuch

Diego wurde bisher noch nie erwischt. Sein Freund hingegen ist bereits mehrmals angezeigt worden.

Minderjährige werden in Zürich laut der offiziellen Webseite des Kanton Zürich nach dem Jugendstrafrecht beurteilt. Die möglichen Konsequenzen reichen von Erziehungsmassnahmen, Verwarnungen, Geldstrafen und Einträgen ins Strafregister bis hin zu sozialpädagogischen Auflagen oder Jugendarrest. Jugendliche sind in ihrer Entwicklung noch beeinflussbar, weshalb Strafverfahren und Sanktionen bei ihnen pädagogisch ausgerichtet und anders als im Erwachsenenstrafrecht gestaltet sind.

Da Diego bald 18 Jahre alt wird, ändern sich im Hinblick auf seine Zukunft einige Dinge. Ab dem Erwachsenenalter verschärfen sich die Konsequenzen.

Mit den gesetzlichen Konsequenzen hat sich Diego noch nicht befasst. Er weiss nicht was gilt: «Han ich mir bis jetzt nonig überleit, aber demfall villicht scho. Mal luege.»

Ausblick von einem Turm bei Dämmerung.

Beim Trainsurfen verstösst man gegen das Eisenbahngesetz, was zu einer Busse führen kann (Art. 86 EBG: Übertretungen). Darüber hinaus kann das Verhalten auch eine Strafbarkeit nach dem Strafgesetzbuch (StGB) begründen, beispielsweise nach:

  • Störung des öffentlichen Verkehrs, wenn dabei Eigentum oder Menschenleben gefährdet werden. (Art. 237 StGB)

  • Störung von Betrieben, die dem öffentlichen Dienst dienen. (Art. 239 StGB)

In solchen Fällen droht eine Geldstrafe oder sogar eine Freiheitsstrafe.

Auf Anfrage bei der SBB werden aus Gründen der Prävention und Sicherheit keine operativen Details oder konkrete Beispiel zu diesem Thema bekanntgegeben, jedoch werden Vorfälle dieser Art konsequent verfolgt. In den sozialen Medien veröffentlichte Videos oder Fotos werden den Strafverfolgungsbehörden gemeldet und Personen, die beim Trainsurfen identifiziert werden können, von der SBB zur Anzeige gebracht. Solche Publikationen könnten weitere Personen dazu animieren, das Verhalten nachzuahmen und dadurch sich und andere zu gefährden. Nach eigener Aussage ist Schutz von Menschenleben und der sichere Betrieb des Bahnverkehrs oberste Priorität der SBB.

 

Psychologischer Blickwinkel

Die Psychologin Andrea Sardorf aus München erklärt das Phänomen Urban Exploring genauer. Es lässt sich als eine Form des sogenannten Risk Seeking und des Sensation Seeking einordnen. Menschen mit einer hohen Ausprägung im Sensation Seeking streben gezielt nach intensiven und neuartigen Erfahrungen, um ein als optimal empfundenes Aktivierungsniveau zu erreichen, wobei Neurotransmitter wie Dopamin und Adrenalin ausgestossen werden. Das Erleben des «Kicks» wirkt kurzfristig belohnend, ähnlich wie bei anderen Suchterkrankungen stumpfen jedoch mit der Zeit die Rezeptoren ab, und immer stärkere Reize werden nötig, um denselben Effekt zu erzielen. «Trainride fühlt sich inzwüsched ah, wie E-Scooter fahre», erzählt uns auch Diego.

Beliebter Turm von Urbexern bei Nacht.

Neben dieser suchthaften Komponente kann Urban Exploring auch eine Form des Vermeidungsverhaltens darstellen. Durch die Konzentration auf das Risiko und durch die Spannung werden negative Gefühle vorübergehend ausgeblendet. Urbexer haben oft Schwierigkeiten in der Selbstregulation und im Umgang mit Frustration, besonders im Hinblick auf weitreichende Ziele. Das Verhalten dient nicht nur der Reizsuche, sondern auch der Selbststimulation.

In extremen Fällen kann das Verhalten sogar präsuizidale Züge annehmen, wenn eine unbewusste Gleichgültigkeit gegenüber möglichen Gefahren oder gar eine selbstzerstörerische Haltung besteht. Zudem zeigt sich, dass viele Risikosuchende eine ausgeprägte Illusion of Control entwickeln, sie unterschätzen die Gefahren und überschätzen ihre Fähigkeiten, die Situation zu beherrschen. Nicht selten finden sich darunter Menschen mit ADHS, die wegen einer erhöhten Grundanspannung und eingeschränkten emotionsregulatorischen Fähigkeiten besonders anfällig für solche Grenzerfahrungen sind. Urban Exploring ist ein Teil des Selbstbildes und identitätsstiftend, es ist inszenierte Coolness.

Mit diesen psychologischen Erklärungsansätzen konfrontiert, meint Diego, dass sich viele der genannten Aspekte mit seiner eigenen Wahrnehmung decken – einzig die präsuizidalen Züge kann er bei sich selbst nicht feststellen.

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