Versteckt, aber nicht verloren – Hilfe für Zürichs Vergessene
Von Charlotte Naef, Mael Schindler & Sora Hauser / Kantonsschule Limmattal / November 2025
Man sieht sie kaum, doch sie sind da: Drogensüchtige und Randständige in Zürich. Das Chrischtehüsli ist einer der wenigen Orte, an denen diese Menschen, Schutz, Unterstützung und Hoffnung finden.
Das Chrischtehüsli von innen: ein warmer, offener Ort, an dem Menschen am Rand der Gesellschaft Schutz, Hilfe und ein offenes Ohr finden. / Foto: www.chrischtehuesli.ch/fotos
In den Medien wird oft ein schönes Bild von der Stadt Zürich vermittelt: modern, sauber, sicher, bunt. Doch dieses Bild stimmt nicht ganz. Die Realität vieler randständigen Menschen, insbesondere der Drogenabhängigen, sieht ganz anders aus.
Früher gab es Orte, an denen man die Drogenkonsumierenden sah, etwa am Platzspitz oder beim Letten. Später verlagerten sich die Szene in den Kreis 4 und Kreis 5. Diese Orte waren problematisch, aber sie machten die Realität sichtbar. Man wusste, wo die Menschen waren, konnte helfen, reden oder falls nötig eingreifen.
Doch mit der Zeit änderte sich der Blick der Stadt. Die Drogenpolitik wollte ein anderes Bild vermitteln, ein schönes, touristisches Zürich. Behörden, Polizei und das Sozialamt begannen, Druck auszuüben: Szenen wurden aufgelöst, Treffpunkte verboten, Aufenthaltsorte kontrolliert. Aber es hat alles schlimmer gemacht. Die Drogenabhängigen verschwanden zwar aus dem Stadtbild, jedoch nicht aus der Stadt. Heute sind sie über ganz Zürich verteilt. Man muss die Menschen suchen, sie sind nicht gestorben, sie sind immer noch da, einfach versteckt. Und genau das ist gefährlich: Wenn man sie nicht mehr sieht, kann viel Schlimmes passieren, und man kann es nicht stoppen.
Die Mitarbeiter des Chrischtehüsli, einer Anlauf- und Beratungsstelle für randständige Menschen in Zürich, haben direkten Kontakt zu Drogensüchtigen. Die Drogenabhängigen kommen hin und erzählen von ihrem Leben und finden Unterstützung. Wir haben mit Emmanuel, dem Geschäftsleiter des Chrischtehüsli, gesprochen. Er ist der Ehemann der Gründerin des Chrischtehüsli, Hanna.
Emmanuel und Hanna Parvaresh-Glauser. / Foto: www.chrischtehuesli.ch
Durch die offenen Gespräche mit Drogenabhängigen erfahren die Mitarbeiter des Chrischtehüsli, wo sie nach den Menschen, die ihre Hilfe brauchen, suchen müssen. Emmanuel erzählt uns von einer Frau, die im Drogengeschäft 7’000 Franken verdient hat. Sie sprach offen mit ihm darüber, wo sie einkaufte und wo sie verkaufte. Früher war alles an der Langstrasse konzentriert, heute ist es eine Kette, die sich über die ganze Stadt zieht.
Ein Ort wie das Chrischtehüsli spielt daher eine sehr wichtige Rolle. Hier kommen Menschen hin, die sonst keinen Ort haben. Sie erzählen von ihrem Leben, sie finden ein offenes Ohr und Begleitung. Der direkte Kontakt zu den Menschen auf der Strasse ist entscheidend, gerade weil die Gesellschaft heute oft nur noch wegschaut.
Vom Platzspitz bis heute
Gegründet wurde das Chrischtehüsli anfangs 1991 von Hanna Parvaresh-Glauser, einer Frau mit grossem Herz für Menschen und einem unerschütterlichen Glauben. Ursprünglich diente das Chrischtehüsli als Anlauf- und Beratungsstelle für Drogensüchtige auf und um den Platzspitz. Von Beginn an war es ein Zufluchtsort für arme Menschen, für Drogensüchtige, einfach für alle, die von Elend betroffen sind. Es ist ein Ort, an dem niemand abgewiesen wird.
Als die Drogenszene am Zürcher Platzspitz eskalierte, entschied sich Hanna zu helfen. Sie wollte nicht warten, sondern einfach machen, nicht kompliziert. Bei ihr musste man nicht wie beim Sozialamt oder in einem Therapiehaus anrufen und wochenlang auf einen Termin warten. Sie wusste: Wenn man Drogensüchtigen helfen will, dann muss man es sofort tun. Emmanuel sagt: «Diese Menschen sind so kaputt, man darf sie nicht zur Therapie zwingen.» Statt Druck zu machen, setzt das Chrischtehüsli auf Vertrauen. Die Menschen wussten, dass es bei Hanna schnell geht. Sie hat ein grosses Herz, sie wartet nicht. Auch heute noch kann man beim Chrischtehüsli ohne Anmeldung einfach hereinkommen.
Ihr Mann Emmanuel Parvaresh wollte ursprünglich nur für ein paar Wochen helfen, jetzt arbeitet er seit 30 Jahren dort. Er erzählt uns von einem Gespräch mit Hanna, an das er sich gut erinnert: Als er Hanna beim Kennenlernen fragte, was für einen Lohn sie im Chrischtehüsli bekomme, antwortete sie schlicht: «Gar nichts.» Sie lebte zu diesem Zeitpunkt mit höchstens 100 Franken im Monat. Und doch konnte sie durch ihren Glauben das Chrischtehüsli aufbauen. Emmanuel berichtet, dass alles durch Spenden finanziert wird, ganz ohne Sozialhilfe. Geld spielte für sie nie eine Rolle: «Wir haben keinen einzigen Franken vom Staat bekommen», sagt Emmanuel heute. Er staunt selbst, was der Herr getan hat, denn für ihn und das Chrischtehüsli hat Gott eine zentrale Rolle im Alltag.
Emmanuel spricht mit grossem Respekt über seine Frau. Er bewundert ihren Mut, als Frau inmitten der offenen Drogenszene am Platzspitz zu arbeiten. «Dafür braucht man ein grosses Herz und auch Mut», sagt er, «sie hat sich dazu mit Gott entschieden und bis heute hat sie keine Zweifel in ihrer Haltung.» Hanna ist eine Frau mit grossem Mitgefühl, aber auch mit klaren Grenzen. «Sie ist manchmal knallhart, aber die Menschen brauchen das», meint Emmanuel.
Mit den Jahren hat sich vieles verändert. Heute sind es nicht mehr nur Drogensüchtige, die im Chrischtehüsli Zuflucht suchen. Auch Flüchtlinge und Migranten finden dort Schutz. Das Chrischtehüsli-Team motiviert die Menschen zum Ausstieg aus der Sucht und vermittelt Entzugs- und Therapieplätze. Darüber hinaus helfen sie Randständigen beim Wiedereinstieg in die Gesellschaft. Sie bieten beispielsweise kostenlose Deutschkurse an oder führen Beratungen. «Die Türen sind für jeden Menschen geöffnet, egal welche Nationalität oder welchen Glauben sie haben», sagt Emmanuel, «Jeder Mensch ist ein kostbarer Mensch.»
1996 wurde zusätzlich eine Kinderspielgruppe gegründet für zwei- bis fünfjährige Kinder, um ihnen den Einstieg in die Schweizer Kultur zu erleichtern. Inzwischen ist sie als Spielgruppe CRAMI bekannt und Teil der vielfältigen Arbeit des Chrischtehüsli.
Der Hauptzweck des Chrischtehüsli bleibt bis heute derselbe: die Gewährleistung einer Anlauf- und Beratungsstelle für Drogensüchtige, Randständige, Migranten und Flüchtlinge in der Stadt und im Kanton Zürich. Heute steht das Chrischtehüsli für das, was Hanna immer wollte: ein Ort, an dem jeder Mensch willkommen ist und neue Hoffnung finden kann.
Mitarbeitende des Chrischtehüsli im Einsatz auf der Strasse. / Bild: www.chrischtehuesli.ch
Viele Abhängige erhalten heute Medikamente von Ärztinnen und Ärzten, indem sie Symptome vortäuschen, zum Beispiel starke Kopfschmerzen. Die Ärzte verschreiben ihnen daraufhin Medikamente, die später ins Ausland verkauft werden. «Man sieht die süchtigen Menschen überall», sagt Emmanuel. «Es reicht, nur eine Stunde am Bahnhof zu stehen, und man sieht Hunderte, die dort Methadon, Heroin oder andere Medikamente bekommen. Manchmal sind es sogar Menschen im Anzug oder sonst schick gekleidet.»
Einige Menschen nehmen auch staatliche Hilfe an, ohne wirklich eine Veränderung zu wollen. Emmanuel erzählt von einer Frau, die er gefragt hat, ob sie in eine Therapie wolle. Sie sagte darauf: «Denkst du, ich bin dumm?» Emmanuel war erstaunt von dieser Reaktion. Sie lebe in einer schönen Wohnung, alles bezahlt von der Stadt. Wenn sie in Therapie ginge, müsste sie arbeiten und würde kein Geld mehr von der Stadt bekommen. Früher, so erzählt Emmanuel, sei es leichter gewesen, Menschen für eine Therapie zu überreden. Heute, wo vieles von der Stadt bezahlt wird, fehlt teils auch der Anreiz, etwas zu ändern.
Alltag, Schicksale und Begegnungen im Chrischtehüsli
Im Chrischtehüsli ist der Alltag sehr vielfältig und jeder Tag anders. Die Mitarbeitenden wissen nie, was sie erwartet. Plötzlich steht jemand vor der Tür, der Hilfe braucht, und das Team muss flexibel reagieren. Die Mitarbeitenden beginnen den Tag meist mit einem Rapport, tauschen Informationen aus und beten für kranke Menschen.
Im Tagesablauf unterstützen sie Menschen beim Schreiben von Bewerbungen, begleiten Kranke zum Arzt und übernehmen teils auch die Kosten dafür. Sie kochen, beraten, schneiden Haare und gehen auf die Strasse, um den Menschen direkt auf der Gasse zu helfen. Die Arbeit auf der Strasse ist oft herausfordernd. Manche Menschen sind aggressiv, und manchmal müssen die Mitarbeitenden die Polizei rufen oder sogar Strafanzeige machen. Sie gehen immer zu zweit, um Sicherheit zu gewährleisten und sich gegenseitig zu unterstützen.
Die Mitarbeitenden arbeiten eng mit Institutionen wie der Helsana, den Behörden oder der Polizei zusammen. Sie wissen, dass viele Menschen auf der Gasse krank sind und unter Suchtdruck leiden. Die Arbeit erfordert Geduld, Herz und ein klares Ziel. Emmanuel sagt, dass ihm manchmal alles zu viel wird und er aufpassen müsse, dass sein Ego nicht überhandnimmt. «Wir sind wie eine Familie, das ist unsere Aufgabe. Wir sind wie Hirten da für die Menschen und müssen einfach Geduld haben, einander vergeben und nicht immer negativ denken», sagt Emmanuel. «Nur weil Menschen manchmal blöd tun, heisst das nicht, dass sie schlechte Menschen sind.»
Viele junge Menschen auf der Gasse sind in Gefahr. «Viele sagen, dass sie Drogen nur einmal probieren wollen, aber wenn man einmal probiert, dann ist es vorbei und diese Sucht ist immer da», meint Emmanuel. Er kennt viele Menschen, die sich wünschten, nicht drogensüchtig zu sein.
Emmanuel erzählt die Geschichte eines ehemaligen Drogenabhängigen. Nach seiner Therapie lud er Emmanuel und Hanna zu seiner Hochzeit ein. Während der Feier nahm er das Mikrofon und sagte: «Hanna, ich bin sehr dankbar, du warst knallhart. Wegen deiner harten Haltung bin ich heute frei geworden.» Er ermutigte sie weiterzumachen, denn die Menschen brauchen diese Unterstützung.
Die finanzielle Situation im Chrischtehüsli ist schwierig, sie müssen Miete und Mitarbeitende zahlen. «Wir wollen nicht im Reichtum leben, unser Ziel ist, dass das Chrischtehüsli läuft», meint Emmanuel. «Das, was wir in den letzten 35 Jahren gemacht haben, ist gewaltig. Wir konnten Menschen jung und alt helfen, und heute ist ein Teil davon frei. Das ist der Lohn unserer Arbeit, man hat ein gutes Gefühl.» Das Chrischtehüsli soll kein wirtschaftliches Geschäft werden, sondern ein Zufluchtshaus für Menschen. Emmanuel und seine Frau leben selbst in einer alten Genossenschaft. Sie sind der Meinung: «Geld macht nicht glücklich, aber was man gibt für die Menschen, dass sie leben können und gesund sind, das macht glücklich. Das ist unser Ziel als Ehepaar.»
Eine weitere Geschichte ist die von Samuel, einem heutigen Mitarbeiter des Chrischtehüsli, mit dem wir bei unserem Interview ebenfalls sprechen konnten. Nach einer schwierigen Vergangenheit wurde er drogensüchtig. «Ich dachte, ich könnte die Kontrolle behalten. Aber das war der Anfang vom Ende», sagt er heute. Nach einer Kokain-Überdosis erlitt er einen Schlaganfall und lag drei Wochen im Koma. Der Arzt sagte ihm zuerst, er werde nie mehr laufen. Am letzten Tag seines Komas hörte er eine Stimme, die für ihn Gottes Stimme war, und sie gab ihm Kraft. Heute arbeitet er seit fünf Jahren freiwillig im Chrischtehüsli und unterstützt andere Menschen, die ihren Weg suchen. Sein Rat an Menschen, die in einer ähnlichen Situation stecken wie er früher, lautet: «Kopf hoch und nicht aufgeben.» Er kann heute auch wieder laufen. «Früher war alles dunkel, jetzt sehe ich wieder Licht», sagt er.